07.11.1991 Lijiang: Und noch ein Paradies

Zuletzt aktualisiert vor 7 Monaten

Von Dali aus fahre ich weiter nach Lijiang. Immer wieder grummelt mir der Bauch. Es wird deutlich, dass es mir nicht optimal gut geht. Auch die Höhe macht mir zu schaffen. Lijiang liegt auf rund 2.600 Metern Höhe. Ich gerate schnell außer Atem. Die unruhigen Nächte sind, wie ich heute weiß, auch auf die Höhe zurückzuführen.

Lijiang Teich

In Lijiang strahlt jeden Tag die Sonne von einem leuchtend blauen Himmel. Aber nachts wird es empfindlich kalt. Schließlich ist ja schon November. Das alles entschleunigt mein Reisen. Ich bewege mich meistens langsam, mache gerne Pausen, fühle mich schnell erschöpft. Aber die fantastischen Dinge und Menschen, die ich sehe, geben mir dann wieder Auftrieb! Nach ein paar wunderschönen und interessanten Tagen wird mir klar: Ich muss irgendwohin, wo es wärmer ist!

Aus meinem Reisetagebuch 1991:

Lijiang, mein Shangri La

Lijiang! Was ich von diesem Ort höre, klingt wie das geheime Shangri La der Backpacker! Eine alte Stadt mit schmalen Gassen, einst Hauptstadt des Naxi-Reiches, in dem sich viele alte Traditionen aus der Tang-Dynastie erhalten haben. Lange Zeit waren Stadt und Umgebung nur schwer zu erreichen und entzogen sich dem Einfluss des chinesischen Reiches und auch der Kommunisten. Bis in die 50er Jahre hinein soll es dort noch das Matriarchat gegeben haben! Ich höre von Traveller-Cafes, schöner Landschaft, interessanter Kultur: einfach alles, was ich brauche, um neugierig zu werden!

Shangri La
Shangri La nennt John Hilton in seinem Roman „Lost Horizon“ einen fiktiven Ort im Himalaya, in dem Frieden und Schönheit herrschen. Die Menschen leben maßvoll und sterben nicht. 2001 hat sich der Ort Zhongdian, rund 170km nördlich von Lijiang, in Shangri La umbenannt. Zhongdian ist ein überwiegend tibetisch geprägter Ort, in dessen Zentrum der eindrucksvolle tibetische Songzanlin Tempel liegt. Also lag ich damals gar nicht so falsch, als ich Lijiang mein Shangri La nannte.

Die Fahrt mit dem öffentlichen Bus von Dali geht über bewaldete Berge. In den Tälern liegen die meisten Felder nach der Ernte brach. Am Wegesrand wird Getreide zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet. Im Bus hängt ein Hauch von Marihuana. Diese Pflanze wächst wie Unkraut gleich an der Straße, was einige meiner westlichen Mitreisenden mit einem erfreuten Nicken begrüßen.

Anreise nach Lijiang 2020
Heute verfügt Lijiang nicht nur über den zweitgrößten Flughafen der Provinz Yunnan, sondern auch über einen modernen Bahnhof. Der Zug braucht von Kunming rund 3 Stunden, von Dali (eine leicht andere Strecke) sind es 2,5 Stunden.

Lijiang ist unterteilt (1991) in einen typisch chinesischen Teil mit den üblichen hässlichen Betongebäuden, und der alten Naxi-Stadt, die sich zu Füssen eines Hügels entlang kleiner Wasserkanäle hinzieht. Das preiswerte Backpacker-Hotel liegt direkt am Busbahnhof. Der ist wichtiger Knotenpunkt auf dem Weg nach Tibet, das irgendwo hinter dem hohen schneebedeckten Berg am Horizont beginnt.

Die Mosuo

Gleich nach meiner Ankunft sehe ich eine Gruppe hochgewachsener Frauen in langen weißen plissierten Röcken mit bunten Stickereien und hohen Hauben auf den dicken schwarzen Zöpfen. Wo mögen die wohl herkommen? (Anmerkung: Heute weiß ich, dass es sich um Frauen der Mosuo handelte. Wikipedia Die Mosuo)

Lijiang Mao

Direkt gegenüber vom Busbahnhof gibt es eine mehrere Meter hohe Mao-Statue. Mao steht aufrecht im Anzug dort und weist mit der ausgestreckten Hand nach Westen. Dieser steinerne Arm bietet den Tauben einen willkommenen Rastplatz.

Peters Cafe

Direkt daneben ist Peter’s Cafe, der Treffpunkt für uns Traveller! Peter ist ein Amerikaner, der mit einer einheimischen Naxi-Frau zusammen ist. Die Frau ist Sängerin und singt abends für uns alte Volkslieder. Wunderschön! Peter erzählt oft davon, welche Schwierigkeiten er hat, weil sie heiraten wollen. Den chinesischen Behörden scheint das nicht zu passen.

Abends wird es empfindlich kalt. Lijiang liegt noch höher als Dali. Trotzdem sitzen wir meistens draußen. Peter und seine Frau bieten ein Naxi-Buffet mit typischen Speisen an, wenn genügend Leute zusammenkommen. Das gelingt dann auch an einem Abend. Ich freue mich über so eine spezielle Gelegenheit.

Das Essen ist ein wenig anders als in China. Es werden sehr viel Kartoffeln verwandt, was sicher nicht original ist. Als Gewürze gibt es viel, sehr viel Knoblauch und Anis. Mit Pilzen, Lotoswurzeln, Kastanien und anderen Gemüsen werden schmackhafte Speisen zubereitet. Dazu wird das leckere Naxi-Brot serviert. Dieses Fladenbrot wird aus einer Mischung von Teig und kleingehackten Frühlingszwiebeln hergestellt. Einfach köstlich!!

Höhepunkt des Abends ist der Besuch bei einem netten älteren Herrn, der uns ein Konzert mit alter Naxi-Musik anbietet. Zusammen mit einigen seiner Freunde spielt er auf den antiken Instrumenten und erklärt auch sehr viel davon. So haben wir die Gelegenheit, mal mit Einheimischen in Ruhe zu sprechen. Der Mann ist Musiklehrer. Er erzählt ganz glücklich, dass nun diese alte Musik wieder an Bedeutung gewonnen hat, weil vor ein paar Jahren eine westliche Wissenschaftlerin bei ihm gewesen war, um diese Musik zu erforschen und aufzuschreiben.

Kalte Nächte in Lijiang

In der ersten Nacht wird es eiskalt. Ich habe meinen Schlafsack auf meine Decke gelegt und zittere trotzdem vor Kälte. Mit in meinem Zimmer sind ein Amerikaner und eine Kanadierin, Marion. An Einschlafen ist lange nicht zu denken, weil in der Diskothek nebenan die Musik auf voller Lautstärke dröhnt.

Nachdem ich endlich eingeschlafen bin, wache ich am frühen Morgen auf, weil ich keine Luft mehr bekomme. Ich ringe um Atem, weiß nicht, was das ist und liege stundenlang voller Angst im Bett. Nach zwei Stunden unruhigem Halbschlafs geht es mir besser. Es gibt kein warmes Wasser in der Dusche. Da es immer noch sehr kalt im Zimmer ist, verzichte ich aufs Duschen. Müde und schlecht gelaunt gehe ich rüber zu Peter’s Cafe, trinke erst mal einen Kaffee und esse ein Stück Brot.

Die Altstadt der Naxi

Danach fühle ich mich besser und erkunde die Stadt und die Umgebung. Lijiang ist wirklich ein Traum! In dieser Höhe scheinen die Farben viel intensiver zu sein. Die Menschen in ihren leuchtend blauen Trachten sind sehr nett und lachen mich überall an. In den Kanälen plätschert das Wasser, die Geschäfte und Märkte sehen genauso aus wie vor 100 Jahren.

An den Ecken sitzen die alten Männer auf niedrigen Hockern und schwatzen oder spielen Karten. Manche haben in einem Tragetuch ihren kleinen Enkel auf den Rücken gebunden. Die Märkte sind geprägt von den Frauen, die die meisten Händlerinnen und auch die meisten Käuferinnen stellen.

Über allem wacht der 5000m hohe Jade-Drachen-Berg, dem wir es verdanken, dass es hier keine Heizungen gibt im Hotel. Denn südlich des Yangzi-River wird in China nicht geheizt! Und der Yangzi fließt nördlich von Lijiang hinter dem Berg durch eine tiefe Schlucht!

Wanderung in der Tigersprungschlucht und die Beinahe Katastrophe

Mit einigen Leuten tue ich mich zusammen, um einen Ausflug zu dieser Schlucht, der Tigersprung-Schlucht, zu machen. Wir mieten einen Minibus samt Fahrer, der uns zum Anfang der Schlucht bringt. Unterwegs sehe ich einen Mann, der einen großen Raubvogel auf seinem behandschuhten Arm trägt – ein Falkner?

Dann wandern wir für zwei Stunden entlang der spektakulären Schlucht auf einem uralten Karawanenweg. Tief unter uns tobt der Fluss weiß sprudelnd. Darüber im gleißenden Sonnenlicht die Schneefelder der Berge. Eine Maultierkarawane kommt uns entgegen. Märchen oder Wirklichkeit?

Ich könnte noch stundenlang weiter gehen. Doch wir müssen zurück. Dann passiert das Unvorstellbare! Nach ungefähr 20 Minuten stelle ich fest, dass ich meine Kamera bei der letzten Pause liegen gelassen habe. Mir bleibt schier das Herz stehen! Wie konnte das passieren?! Ich gebe den anderen Bescheid und eile zurück. Wird die Kamera noch da sein? Ja, da liegt sie! Glücklich packe ich sie sorgfältig wieder in ihre Tasche. Das wird mir nicht noch einmal passieren!

Wir feiern einen Geburtstag

Abends sitzen wir dann in Peter’s Cafe zusammen und feiern den Geburtstag einer Australierin. Geburtstag feiern scheint zu bedeuten, dass jeder ein Lied singt oder sonst etwas darbietet, um das Geburtstagskind zu ehren. Wir sind ungefähr 14 Leute, die wir um mehrere Tische herum bei Kerzenlicht sitzen. Jeder singt ein Lied aus seinem Heimatland. Als die Reihe zum ersten Mal an mich kommt, singe ich das schon bewährte „Kein schöner Land“. Ich bin tatsächlich noch ein zweites Mal dran! Diesmal singe ich „Hamborger Veermaster“ Ich finde es eigentlich ganz schrecklich, dass ich mich so produzieren muss, aber ich mag mich auch nicht ausschließen.

Es folgt eine weitere Nacht, in der ich wach liege und auf den dröhnenden Lärm der Disco lausche, in meinem klammen Bett, eine weitere kalte Dusche und ich beschließe, nach Dali zurückzufahren. Gerne würde ich länger in Lijiang bleiben! Mit ein wenig Bedauern denke ich an die Tempel, die ich hier nicht gesehen habe. Aber zur Zeit habe ich nicht viel Interesse an Tempeln. Ich kann nicht alles sehen!

Zurück in Dali

Die Rückfahrt nach Dali zerrt an meinen Nerven. Hustende und spuckende Männer überall. Vorne sitzt jemand und raucht Marihuana, das erkenne ich schon an dem unangenehm beißenden Geruch! Ich habe Bauchschmerzen, bin ungeduldig und gereizt.

In Dali ist es angenehm warm. Ich erledige meine Post und gehe zur Bank. Danach verbringe ich meine Tage mit dem Rumhängen in den Backpacker-Restaurants und mit unruhigem Herumziehen. Ich gehe hinauf in die Berge und wandere in der stillen Landschaft, dann fahre ich mit dem Fahrrad zu dem Dorf am See.

Rastlos und immer alleine wandere ich durch die Umgebung von Dali. Bis weit hinauf in die Berge sind schmale Felder gepflügt, die jetzt nach der Ernte in vielen Brauntönen leuchten. Die Dörfer haben so enge Gassen, dass kein Auto hindurchkommt. Manchmal ist es geradezu unheimlich still. Vögel zwitschern, Kinder lachen. Auf dem See ziehen weiße Segelboote.

Das Provinzmuseum

Mit dem Bus fahre ich in die Provinzhauptstadt Xiaguan. Moderne Betonbauten prägen die Stadt. Das Provinzmuseum hat noch geschlossen, als ich ankomme. Ich spaziere ein wenig am Seeufer entlang, wo es einen schönen Park gibt. Strahlend blauer Himmel über dem dunklen See. Ein Wind bläst die Fischerboote mit ihren weißen Segeln übers Wasser. Ich sitze auf einer Bank und schaue träumend auf die grandiose Landschaft. Kleine Pferdewagen scheinen die Taxis zu ersetzen. Ich habe Glück und finde ein Hufeisen!

Endlich öffnet das Museum. Es sind neue Gebäude, die sich wie traditionelle chinesische Häuser um etliche Höfe mit Gärten gruppieren. Museen scheinen weder bei den Einheimischen noch bei den Backpackern ganz oben auf der „unbedingt-zu-besichtigen-Liste“ zu stehen. Bis auf die Museumsangestellten bin ich der einzige Mensch im Museum.

Die Ausstellung deckt alle Aspekte der Geschichte der Gegend ab: die ältesten Stücke sind aus der Steinzeit. Ein Saal zeigt Bilder und Gegenstände aus den Anfängen der kommunistischen Regierung. Auch Kunsthandwerk aus der Gegend und Trachten sind ausgestellt.

Eine Hochzeitszene ist aufgebaut. Wer hätte gedacht, dass zum Hochzeitskleid eine Sonnenbrille gehört! In der Heimatkundeabteilung haben zwei Mädchen ihre Musikanlage voll aufgedreht: Discomusik! Ich nehme mir Zeit, um mir alles anzusehen. Nach der zweiten Runde fahre ich zurück nach Dali.

Die Drei Pagoden sind das Wahrzeichen Dalis
Die Drei Pagoden sind das Wahrzeichen Dalis

Women’s Temple und ein Fall ins Wasser

Jim bietet einen weiteren Ausflug in die Umgebung von Dali an, diesmal zum Women’s Temple und zu einem Dorf. Der Women’s Temple ist eine wirkliche Überraschung! Nach einer kurzen Fahrt hält der Minibus. Wir müssen über eine Lehmstraße durch das Dorf gehen. Vor einem alten Haus bleibt Jim stehen. Eine ältere Frau begrüßt uns lächelnd und bittet uns hinein.

Hinter diesem unscheinbaren Eingang verbirgt sich ein kleiner Tempel. Eine dunkle Halle ist voller bunter Frauenfiguren. Jimmy zählt auf: „Das ist die Mutter von Buddha, das ist seine Tante, das ist seine Großmutter…“ Die Deckenbalken sind schwarz vom Rauch der Kerzen und Räucherstäbchen. Wir werden eine enge Wendeltreppe hinaufgeführt.

Oben im Turm thront Guanyin, die weibliche Verkörperung Buddhas, wie eine Mutter Gottes in einer Nische. Sie hat sogar ein Kind auf dem Arm! Ich bin wie betäubt von diesem merkwürdigen und fremdartigen Tempel. Nach einer Weile verabschieden wir uns von der alten Frau, nicht ohne eine großzügige Spende zu hinterlassen. Auf dem Weg zurück zur Straße begegnen wir einigen Leuten, die lachend und singend den Lehm für eine neue Hausmauer mit ihren nackten Füssen feststampfen.

Dieser Ausflug führt in eine für uns völlig fremde Welt. Wir halten an, um mit einem Fischer zu sprechen, der seine Kormorane gerade an Land bringt. Im nächsten Dorf steigen wir in einige flache Boote um. Statt Straßen gibt es in dem Dorf Kanäle, auf denen die Leute mit Booten zu ihren Feldern, die Kinder zur Schule und die Frauen zum Markt fahren. Die Boote sind sehr flach, die Bauern staken uns mit langen Stangen über das flache Wasser.

An der Schule

An einer alten Schule, die auf einer Insel liegt, steigen wir kurz aus. Die Schulgebäude bestehen aus dicken Holzstämmen mit Ziegelfachwerk. Die hoch über dem Boden liegenden Fenster haben kein Glas, nur Holzgitter und manchmal etwas Papier. Wir hören das Rezitieren der Kinder, die offensichtlich Englisch lernen.

Dann geht es mit den Booten weiter. In dem Boot vor uns versucht ein großgewachsener blonder Schwede gemeinsam mit dem Einheimischen, das Boot zu staken. Dabei entsteht viel Gelächter und Spaß. Doch plötzlich schwankt das Boot, der Chinese verliert das Gleichgewicht und fällt mit einem Platsch ins flache Wasser. Es gibt ein großes Hallo, aber keiner von uns macht sich wirklich Gedanken um den Mann, da er doch eigentlich auch stehen könnte.

Erst als Jim laut ruft, dass der Mann nicht schwimmen kann, springt der Schwede hinterher. Der Mann ist in Panik und droht, im flachen Wasser zu ertrinken. Noch zwei Jungen springen hinterher und gemeinsam zerren sie ihn zurück in das Boot. Schnell erholt er sich von dem Schock. Aber er lässt natürlich niemanden mehr an die Ruderstange.

Bald sind wir zurück an Land. Der Chinese akzeptiert zwar die Entschuldigung des Schweden, mag aber erst nach allgemeinem Zureden die kleine Entschädigung annehmen, die ihm der Schwede überreicht. Beim anschließenden Essen in einem lokalen Restaurant ist diese Begebenheit natürlich das Hauptgesprächsthema. Doch dann fällt einem Mädchen ihr Geldgurt in das Plumpsklo und der Fall ins Wasser ist vergessen.

Am Abend machen unsere Abenteuer die Runde in den Restaurants und der Schwede ist der Held des Tages. Ich treffe Marion wieder, die Kanadierin aus Lijiang. Wir verabreden uns für die gemeinsame Fahrt nach Kunming am nächsten Tag.

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Wie alles begann

Ulrike

2 Gedanken zu „07.11.1991 Lijiang: Und noch ein Paradies“

  1. Ein sehr schöner Beitrag. Lijiang hat mir auch sehr gut gefallen, die abendlichen Tänze der Naxi-Frauen, die kleinen Gassen, kein Tourismus. Aber für jedmanden wie mich, die ich kein Chinesisch spreche, mit vielen Umwegen verbunden. Aber trotzdem war es ein sehr interessanter Ort.

Ich freue mich auf Deinen Kommentar!