29.04.1991 Von Xi’an an den Yangtze

Zuletzt aktualisiert vor 6 Monaten

Chongqing 1991

Die nächsten Tage sind geprägt von Glück und Elend. Unterwegs in China sein trotz Durchfall und strömendem Regen zerrt an meinen Kräften. Trotzdem fühle ich mich, als sei ich schon immer unterwegs. Ich habe mich daran gewöhnt, dass mein Hausstand aus dem Inhalt eines Rucksacks besteht, dass es nicht immer und überall sauber und ordentlich ist und dass ich alle paar Tage ein neues Bett oder auch mal gar keins habe.

Meine Begleiter machen mir das Leben mal leichter, kümmern sich, aber kümmern sich auch mal zu viel. Wenn ich mit den beiden Jungs reisen will, muss ich mich anpassen. So kommt es auch zu der ersten (und einzigen) anstrengenden Nacht im Wartesaal eines Bahnhofs.

Aus meinem Reisetagebuch von 1991:

29./30.04.91 Fahrt von Xi’an nach Chongqing

Im Hardsleeper

Bei strahlendem Sonnenschein fahren wir von Xi’an ab. Ich versuche, meinen Hunger zu beherrschen. Mir geht es sehr viel besser und ich würde gerne etwas essen. Aber die Verpflegung im Zug ist sowieso nicht sehr appetitlich, so dass ich zur Zeit keine Probleme mit dem Fasten, das Josef streng überwacht, habe. Außerdem habe ich zufällig gesehen, wie die Schaffnerin die Toilette, die nur ein Loch im Boden ist, und das Waschbecken mit dem gleichen Besen wie den Wagenboden geputzt hat und damit allen Schmutz und alle Bakterien gleichmäßig überall verteilt hat.

So ist China: faszinierend und abstoßend, liebenswert und ekelerregend zugleich. Zwei Wochen bin ich jetzt in diesem Land und mir erscheint es, als wäre ich immer schon hier gewesen. Reisen ist für mich eine völlig normale Art zu leben geworden.

Der nächste Morgen bringt eine veränderte Landschaft draußen und Regen. Statt durch karge, gelbe Berge wie bei Xi’an fahren wir nun durch lichte grüne Wälder. In den Tälern liegen kleine Dörfer. Feld reiht sich an Feld. Zwischen Getreide- und Gemüseäckern in den unterschiedlichsten Grüntönen leuchten die frisch gepflanzten Reisfelder in hellgrün. Manches Getreide ist schon reif und gelb.

Große Kohlköpfe setzen blaugrüne Akzente. Die strohgedeckten Häuser in den Dörfern sind aus rötlichen Lehmziegeln gebaut und liegen eingebettet in zartgrüne Bambuswälder. In den dunklen Dorfteichen baden graue Wasserbüffel. Weiße Enten watscheln langsam über die lehmroten Wege. Manchmal versperren schwarze Zypressen den Blick auf die Landschaft.

Häufig fährt der Zug durch Tunnel. Je heller der Tag wird, desto mehr beleben sich die Dörfer und Wege. Kinder gehen mit Büchern in der Hand zur Schule. Auf den Feldern wird gearbeitet. Alles wird mit der Hand oder mit Hilfe der großen Wasserbüffel erledigt. Ein Trecker wäre zu groß für die z.T. winzigen Terrassenfelder.

Mir fallen die vielen Grabhügel auf, die an den Feldrainen aufgehäuft sind. Es ist faszinierend zu sehen, dass die Chinesen auch heute noch ihre Toten in runden Erdhügeln bestatten, wie es schon seit Jahrtausenden die Menschen überall in der Welt tun. Die Hügelchen erkennt man als chinesische Gräber an den Grabplatten vor dem Hügel und manchmal auch an den Papierfähnchen auf der Spitze. Sie scheinen ganz willkürlich am Rande der Felder oder an die Hänge der Berge aufgeschüttet zu sein. Doch ich weiß, dass ein kompliziertes Auswahlverfahren den Platz eines Grabes in China bestimmt. Friedhöfe gibt es hier nicht.

Übrigens
Xi’an – Chongqing 1991: Bahnfahrt Dauer 27 Stunden Strecke über Chengdu 1.350km

Xi’an – Chongqing 2019: Hochgeschwindigkeitszug 5 – 6 Stunden Entfernung der Schnellzugstrecke: rund 980km.

Unterwegs in China: Hardsleeper

Chongqing 1991

Als wir am zweiten Tag der Zugfahrt gegen Mitternacht Chongqing 1991 erreichen, regnet es in Strömen. Josef und Olaf wollen kein Hotel mehr suchen, da es schon so spät ist. Ich kann sie leider auch nicht dazu überreden, obwohl ich sehr müde bin und mich nach einem Bett sehne und auch anbiete zu bezahlen.

Also suchen wir uns im Bahnhof eine Stelle, wo wir etwas Ruhe haben. Wir sehen uns in der Umgebung des Bahnhofs um, aber in allen einigermaßen geschützten Ecken sitzen oder liegen schon Menschen und warten. Mein Weg zu einer öffentlichen Toilette wird zum Abenteuer. Ich muss durch eine finstere Gasse, wo sich in jeder Ecke dunkle Gestalten bewegen. Reisende, Vagabunden, Bettler? Ich halte mich nicht damit auf, genauer hinzusehen.

Die Toilette ist dann glücklicherweise mit Neonröhren grell erleuchtet. Die übliche Rinne im Boden, mit niedrigen Mauern, die die einzelnen Abteile abtrennen. Die Abteile sind zum Gang hin offen. Aber alles ist sauber und ohne Gestank. Das ist mir die geringe Benutzungsgebühr, die ein Mann am Eingang verlangt, wert. Trotzdem bin ich danach froh, als ich Josef und Olaf wieder treffe.

Eine unbequeme Nacht im Bahnhof

Große Teile des Bahnhofs werden umgebaut. Deshalb gibt es auch keine Wartesäle, wo man sich vielleicht aufhalten könnte. Nur eine große neue Halle ist offen. Gleißendes Neonlicht erhellt den Saal. Die langen Reihen von Stühlen, die vor den Türen zu den Bahnsteigen aufgestellt sind, sind besetzt von Reisenden, die anscheinend auf die nächsten Züge warten. Manche haben eine Decke auf dem Boden ausgebreitet und schlafen tief und fest. Familien haben den Vorteil, dass sie sich dicht aneinander geschmiegt gegenseitig wärmen können. Wir finden schließlich zwei freie Stühle. Josef breitet seine ISO-Matte aus, legt sich hin und versucht zu schlafen. Ich stelle meinen Rucksack vor mich und lege im Sitzen meinen Kopf auf die Arme, die von dem Rucksack gestützt werden.

Olaf scheint noch ziemlich munter zu sein. Er läuft hin und her und schaut sich überall um. In der Halle zieht es ganz fürchterlich. Jo kann bald nicht mehr auf seiner Matte liegen. Sie ist doch zu hart. Dort ist er dem Wind voll ausgesetzt. Auf diese Weise komme ich in den Genuss, die Matte ausprobieren zu können. Statt einer Decke nehme ich ein großes Handtuch aus meinem Rucksack und lege es auf meinen Rücken, damit meine wichtigsten Körperteile vor dem Wind geschützt sind. Eine Stunde lang habe ich auf diese Weise gut geschlafen.

Irgendwie geht auch diese Nacht vorüber. Kaum graut der Himmel, brechen Jo und Olaf auf, um sich am Fluss nach Tickets für die Yangzi-Schiffe zu erkundigen. Ich bin derart müde und erschöpft, dass ich es vorziehe, in der Bahnhofshalle auf unser Gepäck aufzupassen. Die Halle wird nun in regelmäßigen Abständen etwas leerer, denn die ersten Züge fahren ab. Sobald ein Zug angekündigt wird, drängen sich alle in Hektik an der entsprechenden Tür. Da habe ich viel zu gucken. Die dreieinhalb Stunden Wartezeit, bis meine Jungs zurückkehren, vergehen wie im Fluge. Leider haben sie nichts erreicht. Fahrkarten gibt es nicht im Voraus. Wir wollen ja vorher noch nach Dazu. Versuchen wir es eben danach noch einmal!

Chongqing 1991: Dauerregen drückt die Stimmung

Chongqing 1991 im strömenden Regen ist schrecklich. Es besteht fast nur aus Bergen rechts und links des Yangzi. Graue Wohnblocks sind das einzige, was wir von der Stadt sehen. Wir brechen auf, um den Bus nach Dazu zu finden. Mit den schweren Rucksäcken auf dem Rücken müssen wir als erstes eine endlos erscheinende Treppe bergauf laufen. Wenn ich nur nicht so müde wäre! Doch die Kälte und der Regen erfrischen mich ein wenig. Die Jungs scheinen zeigen zu wollen, was ein richtiger Mann alles aushalten kann: anstatt mit dem Bus zu fahren laufen wir. Ich immer hinterher.

Ich hätte gerne ein Taxi genommen, dann hätten wir den Busbahnhof schon längst gefunden. Aber das ist angeblich zu teuer. Der Regen lässt nur geringfügig nach. Wir haben keinen Stadtplan, sondern nur eine Skizze im Reiseführer. Dadurch verschätzen wir uns in den Entfernungen. Chongqing ist eine große Stadt, was mir meine wunden Füße und mein geschundener Rücken unschwer bestätigen können.

Endlich sind die beiden dazu bereit, wenigstens einen Stadtbus zu nehmen, um zum Busbahnhof zu gelangen. Eine junge Chinesin und ein Chinese helfen uns dabei. Ich bin damit nicht so glücklich, denn ich habe das Gefühl, dass sie der Meinung sind, dass so ein normaler Linienbus nicht das Richtige für uns Westler sei. Schließlich finden wir den Busbahnhof. Das Mädchen erkundigt sich am Schalter und übersetzt uns anschließend, dass es von dort keine Abfahrten nach Dazu gibt. Das kann ich nicht ganz glauben.

Aber es ist gut möglich, dass heute kein Bus mehr fährt. Allerdings soll es mittags noch eine Verbindung von einer Haltestelle am Hauptbahnhof aus geben. Also müssen wir den ganzen Weg zurück, diesmal aber gleich mit dem Bus! Dort finden wir – ebenfalls mit Unterstützung unserer chinesischen Freunde, die sich entschlossen haben, uns zu begleiten, bis wir im richtigen Bus sitzen – einen kleinen Schalter, an dem wir drei Fahrkarten nach Dazu um 14:20 Uhr bekommen.

Mit Freunden lecker essen

Chongqing 1991 Restaurant

Als Dank für ihre Hilfe laden wir unsere chinesischen Freunde ein, mit uns zu essen. Sie zeigen uns ein Restaurant, in dem sie offensichtlich den Wirt kennen. Unvorsichtigerweise lassen wir die beiden bestellen, was dazu führt, dass uns immer neue Gerichte aufgetischt werden. Nach Gemüse, Fleisch und Suppen serviert man uns einen großen geschmorten Fisch. Die Köstlichkeiten scheinen kein Ende zu nehmen. Bald ist es zu viel, um von uns aufgegessen werden zu können. Wir winken ab, auch wenn die Chinesen über unsere Genügsamkeit enttäuscht sind. Die Gerichte sind alle sehr scharf gewürzt. Deshalb halte ich mich ein wenig zurück, um nicht einen erneuten Durchfall zu riskieren. Gesättigt und gestärkt verlassen wir das Restaurant, kurz bevor ich vor lauter gutem Gefühl im Magen und Wärme im Zimmer einnicke.

01.05.1991 Fahrt mit dem Bus nach Dazu

Unsere Freunde begleiten uns zur Haltestelle, wo wir wieder einmal wie Menschen von einem anderen Stern angestarrt werden. Wir stehen im Mittelpunkt einer Menge, die uns alle mit großen Augen und offenen Mündern anschauen. Sie zeigen ihre Neugier so offen, dass ich mich nicht geniere, ähnlich neugierig zurückzugucken.

Tag der Arbeit!
Der 1. Mai ist Tag der Arbeit, heute einer der wichtigsten Feiertage in China. Allerdings war uns das 1991 nicht bewusst. Es gab damals noch keine Menschenmassen, die an diesem Tag die Sehenswürdigkeiten stürmten.

Der 1. Mai wurde 1949 zu einem nationalen Feiertag in China erklärt. Dieser dauerte 1 Tag.

Von 1999 bis 2008 gewann der Feiertag an Bedeutung, weil es nun eine ganze Woche frei gab. Das wurde bei der großen Reform der Feiertage 2008 wieder auf einen Feiertag zurückgefahren. Die Geschichte des 1. Mai-Feuertages in China

Der Bus, der uns in viereinhalb Stunden (Anmerkung: 2019 auf der Autobahn sind es nur noch knapp 2 Stunden) nach Dazu bringen soll, ist mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet: Videogerät und Klimaanlage.

Wie so häufig in Asien wird des Guten etwas zu viel getan: die Klimaanlage bläst eiskalte Luft auf meinen Kopf, die Lautstärke des Videofilms ist am Rande des Erträglichen. Doch mich kann heute nichts mehr stören. Ich ziehe mir meine Jacke über den Kopf und schlafe trotz des Lärms ein, sobald wir losgefahren sind. Ich verpasse so mindestens 3 Videofilme mit viel Gewalt und ein bisschen Sex. Manchmal wache ich von dem Geschrei im Fernseher auf und blinzele. Aber ich nicke immer gleich wieder ein. Als wir in Dazu ankommen, bin ich dann einigermaßen munter.

Une chambre avec 3 lits!

Ich bin sogar fit genug, um uns im einzigen Hotel am Platz, das westliche Touristen aufnimmt, in französischer Sprache ein Zimmer zu besorgen. Mein Französisch ist wahrlich nicht das beste, aber es ist die einzige Fremdsprache, welche die Frau an der Rezeption beherrscht. « Une chambre avec 3 lits! » bestelle ich. Ich bin ganz stolz auf meine geringen Sprachkenntnisse, als wir unser Dreibettzimmer beziehen. Die paar Stunden Schlaf im Bus halten mich nicht davon ab, gleich todmüde ins Bett zu fallen.

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Wie alles begann

Ulrike

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