03.05.1992 Exkursion ins ländliche Indien

Zuletzt aktualisiert vor 6 Monaten

Auf zu den seltsamen Tempeln von Khajuraho!

Meine Reise durch Indien geht weiter! Ein paar Tage auf dem Lande sind genau das richtige jetzt, denke ich – damals im Mai 1992! Nach all den schmutzigen, vollen Städten Indiens entdecke ich, dass es auch kleine Orte, Dörfer und viel Landwirtschaft gibt. Ich entdecke das schöne Indien. Doch immer wieder gibt es Erlebnisse, die meine Nerven strapazieren. So wie ich manche Inder nicht mag, so gibt es Inder, die mich nicht mögen.

Ich bin ratlos: Wie kann ich Konflikte vermeiden? Muss ich immer den Kopf senken und demütig alles hinnehmen, was mir an Frechheiten und Unverschämtheiten begegnet? Bin ich zu empfindlich geworden und fokussiere zu sehr auf die negativen Aspekte des Reisens in Indien? Schon dieses ständige Grübeln und die häufigen Schuldgefühle zerren verstärkt an meinen Nerven.

Ich genieße jeden Augenblick, in dem ich ungestört die Natur, die interessanten Tempel erlebe. Ich versuche, in solchen Momenten aufzutanken für weitere indische Herausforderungen. Khajuraho mit seinen Tempel ist da eine ganz besondere Herausforderung. Der ganze Ort scheint vor lauter Erotik zu knistern. Oder ist es doch „nur“ der nahende Monsun? Dann die Geschichte im Bahnhofsrestaurant von Jhansi: Soll ich diese mir sehr peinliche Sache erzählen? Ja, doch, denn es gehört zu meiner Reise durch Indien dazu. 

Ich vor dem Rajgarh Palast
Ich 1992 vor dem Rajgarh Palast.

Aus meinem Reisetagebuch 1992:

Khajuraho, der Ort

Das Guesthouse ist sauber, die Zimmer befinden sich rund um einen kleinen Hof herum. Der Ort scheint fast nur aus einer Straße zu bestehen. Kaum habe ich mein kleines Zimmer, mache ich mich auf, den kleinen Ort zu erkunden. Ich gehe zu den nahe gelegenen Tempeln. Diese befinden sich in einem abgeschlossenen Areal, in das man nur gegen einen kleinen Geldbetrag kommt. Heute will ich aber keinen Eintritt zahlen, denn mein Tagesbudget ist fast aufgebraucht.

Da kommt gerade die italienische Gruppe von gestern heraus. Sie freuen sich richtig, mich zu sehen. Der italienische Reiseleiter lädt mich ein, morgen mit ihnen zu einem Maharaja-Palast etwas außerhalb zu fahren. Ich soll um 8:00 Uhr am Holiday Inn sein, wo sie wohnen. Ich freue mich über diese preiswerte Möglichkeit, den Palast zu besichtigen.

Gegenüber dem Eingang zum Tempelbereich befindet sich auf dem Dach eines flachen Hauses ein Café. Unter den weitausladenden Ästen uralter Bäume kann ich sehr schön an der frischen Luft sitzen. Es tut gut, aus den staubigen und übervölkerten Städten raus zu sein. Leise rascheln die Blätter im Abendwind. Die untergehende Sonne taucht alles in ein sanftes gelbes Licht. Die Hitze scheint nicht mehr unerträglich. Zikaden zirpen im Gebüsch.

Kajuraho ist berühmt für seine Tempel aus dem 9. und 10. Jh., als es einen Kult gab, der die Sexualität in den Mittelpunkt gestellt hat. Die Tempel sind voller Reliefs, die den Geschlechtsakt in den verschiedensten Varianten zeigen. Das lockt Menschen aus aller Welt an.

Rajgarh-Palast

Als ich am nächsten Morgen im Holiday Inn bin, wird mir gesagt, dass die Italiener bereits um 5:00 Uhr aufgebrochen sind, weil sie morgens früh den Panna-Nationalpark ansehen wollten. Ich bin enttäuscht. Haben die netten Leute mich verarscht?? Langsam gehe ich zurück. Da hält ein Jeep neben mir. Der indische Reiseleiter der Gruppe lädt mich ein, mitzufahren. Er hatte noch zwei Leute aus der Gruppe abgeholt und dabei auch mich auflesen wollen. Wie nett!

Mit dem Jeep geht es in rascher Fahrt auf den nur sparsam befestigten Straßen bis in die Berge 30km entfernt von Kajuraho. Ungewohnter Luxus! Auf einem Hügel vor den Bergen sieht man schon von weitem die Umrisse des Rajgarh-Palastes. Ich freue mich, als ich dort die Italiener treffe, die ganz begeistert von dem Nationalpark erzählen, wo es auch Tiger geben soll, die sie aber nicht gesehen haben.

Rajgarh Palast
Rajgarh Palast: Schmale Gänge statt Ballsälen

In der langsam sich erhitzenden Luft steigen wir treppauf treppab durch die leeren Zimmer des alten Palastes. Es ist ein kleiner Palast, von irgendeinem Maharaja als Jagdschloss benutzt. Die meisten Mauern sind nur Fassade, sehen aus wie weitere Stockwerke, waren aber nie als solche gedacht.

Vor dem mächtigen Eingangstor steht ein riesiger alter Baum, den der italienische Reiseleiter gleich als Nam-Baum identifiziert. Der Baum enthält Gerbstoffe, die desinfizierend wirken. Dünne Ästchen vom Nam-Baum haben die Inder schon vor Jahrtausenden zur Reinigung ihrer Zähne benutzt.

Khajuraho, die Tempel

Mittags sind wir alle zurück in Khajuraho. Ich bedanke mich bei den Italienern. Sie fahren heute noch weiter. Irgendwie schade, dass man unterwegs immer wieder Abschied nehmen muss.

Ich gehe hinüber zu den Tempeln und bewundere die beeindruckenden Reliefs. Die Wände sind unglaublich dick. Wie wehrhafte Kirchtürme stehen die Tempel auf dem grünen Rasen, der sorgfältig gegossen wird, denn sonst wäre er sicher schon längst verdorrt. Rote Flammenbäume, leuchtender Goldregen und weiß blühende Frangipani-Bäume stehen verstreut im Gelände. Gegen Abend duften die Blüten des Jasmins. Ich sitze wieder in dem Dachterrassenrestaurant, schreibe in mein Tagebuch und schaue hinüber auf die grauen Umrisse der Tempel. In den Bäumen flattern ein paar Vögel und zwitschern.

Nein, ich spreche nicht über Sex!

An einem Nachbartisch sitzt ein langhaariger, nicht mehr junger Inder. Er guckt dauernd zu mir rüber. Ich versuche, den direkten Blickkontakt mit ihm zu vermeiden. Doch das hindert ihn nicht, sich nach einigen Minuten mit einem freundlichen „Hello, Madam!“ zu mir zu setzen. Ich mag nicht unhöflich sein, und nicke ihm ärgerlich zu. Sofort fängt er an, mit mir über die schönen Tempel zu sprechen.

Natürlich kommt er dann auch auf die Reliefs zu sprechen und fragt mich ganz direkt, welche Stellung ich beim Sex bevorzuge. Ich fauche ihn an: „Das geht Dich nichts an! Darüber spreche ich nicht mit Fremden!“ Er dringt weiter in mich. Ich frage ihn, ob das in Indien so üblich sei, ob er auch mit einer fremden indischen Frau über deren Sexualpraktiken sprechen würde. Na klar! Das sei in Indien so üblich. Ich raffe ärgerlich meine Sachen zusammen und gehe, lasse ihn ohne weitere Worte einfach sitzen.

Die meisten anderen Reisenden hier im Ort sind Japaner und Israelis. Die Nebensaison hat angefangen, viele Zimmer stehen leer. Auf den paar Metern zu meinem Guesthouse werde ich von Händlern und Rikscha-Fahrern angesprochen. Natürlich konzentriert sich deren Aufmerksamkeit auf die wenigen Touristen, die da sind.

Ich plage mich mit meinem schlechten Gewissen, weil ich mittlerweile recht unfreundlich mit all diesen Menschen, die mir etwas verkaufen wollen, umgehe. Ich weiß nicht mehr, wohin ich gucken soll. Am liebsten möchte ich wie in China oder Thailand alle anlächeln. Doch die Männer lächelt man hier besser nicht an, vor allem nicht hier, in dem Ort mit seinen Sex-Tempeln. Die indischen Frauen gucken mich nur kritisch und verachtungsvoll an, wenn ich ihnen zulache. Jedenfalls kommt es mir so vor.

Panna Nationalpark

In meinem Guesthouse kann man gut essen. Dabei lerne ich zwei Sanyassins kennen, Männer um die 40, ein Deutscher und ein Holländer. Sie wissen viel Interessantes zu erzählen. Ich traue mich nur nicht zu fragen, wie sie denn heute noch als Sanyassins leben können, als Anhänger Baghwans.

Sie wollen gerne einen Jeep mieten, um zum Panna-Nationalpark zu fahren, und suchen noch Leute, die mitfahren und mit ihnen den Fahrpreis teilen. Da mache ich natürlich gerne mit!

Also brechen wir am nächsten Morgen frühzeitig auf, weil wir hoffen, morgens die Tiger zu sehen. Das gelingt uns leider nicht. Aber wir sehen viele Antilopen und Affen. Der Nationalpark befindet sich an einer hohen Felskante. Dort rauscht das Wasser während des Monsuns in ungeheuren Wasserfällen in die Ebene. Jetzt ist alles trocken. Nur die großen runden roten Felsen zeugen von der Gewalt des Wassers.

Mittags machen wir Pause in einem kleinen Restaurant, das einem Deutschen gehört. Es liegt unter Schatten spendenden Bäumen an einem dünnen Bächlein. Der Deutsche ist in den 70er Jahren hier hängen geblieben. Mit seinem langen Bart und den ungeschnittenen Haaren sieht er wirklich aus wie ein Hippie.

Begegnung mit einer indischen Familie

Zurück in Khajuraho gehe ich mit den beiden Sanyassins zu einer indischen Familie, die der Deutsche kennt. Sie haben drei Kinder und leben in einem sehr einfachen aber ordentlichen Häuschen. Wir bekommen Tee serviert. Ich spiele mit den Kindern. Das Mobiliar scheint fast nur aus einem großen Bett und ein paar Matten zu bestehen. Wir sitzen auf dem Boden. Nach und nach kommen noch ein paar Nachbarn zu uns.

Unverholen starren sie mich an. Sprechen tun die Männer nicht mit mir. Die Frau des Hauses ist nicht da. So bleiben mir nur die Kinder. Einer der Männer streckt mir grinsend die Fußsohlen entgegen. So viel ich weiß, ist das auch hier eine wirkliche Unverschämtheit. Mit böser Miene zeige ich ihm auch meine Fußsohlen. Er guckt sauer weg.

 Kinder in Khajuraho
Nachdenkliche und neugierige Blicke der Kinder

Abends trinken wir alle noch ein Bier im Guesthouse. Ich wusste gar nicht, dass Sanyassins Alkohol trinken. In der Nacht wird es laut. Eine indische Familie ist eingezogen und belegt zwei Zimmer. Da stehen natürlich die Türen offen, die Fernseher sind auf volle Lautstärke gestellt und die Kinder rennen dauernd hin und her. Mir geht dieses laute Indien auf die Nerven.

Mit dem Fahrrad unterwegs

Ländliches Indien: Esel
Ländliches Indien

Eine weitere Besichtigung auf dem ausgedehnten und eingezäunten Tempelgelände endet damit, dass ich ins Guesthouse zurück flüchte, weil ein Gewitter sich mit riesigen dunklen Wolken ankündigt. Dann blitzt und donnert es für ein paar Stunden. Aber es regnet nur wenig. Das Gewitter bringt nur für kurze Zeit eine Abkühlung.

Danach erkunde ich mit dem Fahrrad weitere Tempel in der Nähe. Die Landschaft ist so schön ländlich hier mit kleinen Dörfern, abgeernteten Feldern, Ziegen und Eseln. In der Luft fliegen Vogelschwärme und erfüllen sie mit ihrem Gesang. Das ist das schöne Indien.

Das hässliche Indien

Aber das hässliche Indien hat mich in Khajuraho sofort wieder eingeholt, wenn ich nur mit Mühe die Rikscha-Fahrer und Postkartenverkäufer abwimmeln kann. An einem Kiosk will ich mir einen Kugelschreiber kaufen. Der Verkäufer hält mir einen Becher mit einer bunten Mischung von Kugelschreibern aus der halben Welt entgegen. Ich suche mir einen koreanischen aus.

Damit weiß ich nun auch, was mit den Kugelschreibern passiert, die großzügige Touristen den bettelnden Kindern in die Hand drücken: „Schoolpen, Ma’m!“ Die Kinder verkaufen diese und verdienen ein paar Pfennige damit. Ich fühle mich bestärkt in meiner Absicht, den Kindern niemals etwas zu geben.

Zur Stupa des Kaiser Ashoka in Sanchi

Der peinliche Vorfall im Bahnhofsrestaurant

Mit ein paar Australiern nehme ich den Bus zurück nach Jhansi. Dort fahren häufig Züge nach Sanchi, das nur wenige Stunden Fahrt entfernt liegt. Wir wollen zunächst im Bahnhofsrestaurant ein Thali, das übliche indische Mittagessen, essen. Doch der Kellner ignoriert uns hartnäckig. Inder, die nach uns eintreffen, werden zügig bedient. Nach einer halben Stunde und nachdem wir viele Male versucht haben, zu bestellen, gehen wir hinaus. Wir kaufen uns an einem Kiosk eine Kleinigkeit. Doch wir sind alle ziemlich wütend auf den Kellner. Dann fahren die Australier ab.

Ich gehe alleine zum Bahnhofsrestaurant zurück. Ich habe so die Nase voll von den Indern, dass ich mir das Complaint-Book geben lassen will, das alle staatlichen Einrichtungen, wie auch Bahnhöfe, Restaurants oder Hotels haben müssen. Erst wird mir gesagt, dass man so etwas nicht hat. Man versucht, mich zu ignorieren. Ich bestehe lautstark auf meinem Recht. Der Restaurant-Chef kommt und bietet mir eine kostenlose Mahlzeit an. Was soll ich damit? Ich habe schon gegessen.

Der Chef entschuldigt sich schleimig. Mir ist dieser Mann zutiefst unsympathisch. Ich bleibe hartnäckig. Da wird der Kellner geholt, der uns ignoriert hatte. Er zittert fast und bittet auch um Entschuldigung. Ich merke, dass ich zu weit gegangen bin. Natürlich möchte ich nicht, dass der Mann seinen Job verliert oder dass der Restaurantchef schreckliche Konsequenzen tragen muss. Peinlich berührt und unglücklich über den Aufstand, den ich verursacht habe, akzeptiere ich die Entschuldigungen und gehe rasch zum Bahnsteig. Während der Fahrt überlege ich, ob und welche Folgen das Theater für die Kellner haben wird. Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen.

Sanchi – ruhig und ohne Touris

In Sanchi wohne ich im Tourist-Bungalow, dem einzigen preiswerten Hotel. Es liegt nicht weit vom Bahnhof und von der alten Stupa entfernt. Ich frage den Wirt wegen des Complaint-Books. Das ist offensichtlich das erste, was sich ein Inspektor zeigen lässt, wenn er ein staatliches Restaurant kontrolliert. Eine Beschwerde kann dazu führen, dass die Leute ihren Job verlieren. Hoffentlich passiert das in Jhansi nicht!

Die große Stupa des Kaisers Asoka
Die große Stupa des Kaisers Asoka
Sanchi 2

Sanchi ist ein kleiner Ort ungefähr 330 km entfernt von Khajuraho – keine nervigen Rikscha-Fahrer, keine Männer, die mich anmachen. Allerdings gibt es auch keine Bank zum Geld wechseln.

Ich freue mich über die ruhige, ländliche Umgebung. Gleich morgens gehe ich hinüber zur Stupa. Sie soll aus der Zeit Kaiser Asokas stammen, das heißt mehr als 2000 Jahre alt sein. Kaiser Asoka hat sein Land friedlich nach den Regeln des Buddhismus regiert und überall im Land Stupas, Tempel und Stelen errichten lassen.

Dies war eine Zeit, wo man Buddha noch nicht als Person dargestellt hat. Buddha war ins Nirwana eingegangen und somit nicht mehr existent. Auf den vielen schönen Reliefs hier kann man das sehr anschaulich sehen. In einer Szene, in der Buddha auf einem Elefant reitet, ist nur der Elefant mit einem leeren Sattel zu sehen. Ich bin sehr beeindruckt, auch von der Tatsache, dass ich offensichtlich die einzige Touristin hier bin. Durch die hohen Bäume turnen Streifenhörnchen und überall zwitschern Vögel. Kleine Jungen klettern in den Zweigen, um die runden grünen Früchte zu pflücken. Ich habe keine Ahnung, was das für Früchte sind.

Gegen Mittag kommen immer mehr Menschen hierher, um ein Picknick zu machen. Dabei darf ein Ghettoblaster nicht fehlen. Frustriert gehe ich zum Hotel zurück. Ich versuche, meinen Wasserhaushalt in Ordnung zu bringen. Durch die Hitze bin ich ständig dehydriert. Ich fühle mich schlapp. Ich trinke und trinke, aber die Flüssigkeit scheint gleich wieder zu verdunsten.

Es geht weiter mit: Bhopal, Indore und mehr!

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Wie alles begann

Ulrike

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