Von der Angst unterwegs: Um Mitternacht über den Connor Pass

Heute (Mai 2023) ist dieses Erlebnis gut im Gedächtnis – 45 Jahre danach!

In den Anfängen meiner „Reisekarriere“ gab es schon aufgrund meiner Unerfahrenheit die meisten Momente der Angst. Von meiner Interrailreise 1978 sind mir einige Situationen im Gedächtnis, in denen ich mehr oder weniger Angst empfunden habe, auf unterschiedlichste Weise.

Den intensivsten Eindruck von Angst hinterließ bei mir eine Wanderung um Mitternacht über den Connor Pass in Irland.

Der Connor Pass von Cloghane aus 2009
Der Connor Pass von Cloghane aus gesehen 2009

1978 Meine erste Traumreise mit der Interrailkarte

Ich hatte mir endlich den Traum erfüllt, eine Reise mit der Interrailkarte zu machen. War es zunächst für Nichtstudenten nur bis 21 Jahre möglich, so wurde dies 1978 auf 23 Jahre verlängert. Deshalb gab es für mich kein Halten mehr. Ich hatte schon die Jahre davor davon geträumt, allein zu reisen, doch irgendwie nicht den Mut aufgebracht.

Ganz alleine mit dem Rucksack, die Welt erobern? Das war für mich behütetes Töchterchen aus gutem Hause einfach unvorstellbar. Aber geträumt hatte ich davon! 1978, wenige Wochen vor meinem 23. Geburtstag war ich endlich so weit und ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren.

Meine Eltern waren, nicht zum ersten Mal, erschrocken bei meinen Plänen. Ich wollte bis nach Marokko fahren! Ob ich nicht lieber das Haus, das sie sich gekauft hatten, in Irland anschauen wollte? Schließlich kannte ich das noch nicht. Wie so oft war ich kompromissbereit. Irland hörte sich auch nicht schlecht an. Und Marokko schien mir doch sehr, sehr exotisch. Nur, das Haus lag weitab von jedem Bahnhof. „In Irland kannst Du unbedenklich trampen“ meinte mein Vater. Busse gab es nämlich auch nicht. Voller Enthusiasmus, gespannter Erwartungen und guter Ratschläge meiner besorgten Eltern zog ich los.

Wanderung um Mitternacht über den Connor Pass

Unser Haus in Irland 2009
Unser Haus in Irland 2009, es liegt im kleinen Ort Cloghane an der Westküste der Dingle-Halbinsel

Es war Anfang Juni. Ich hatte Irland erreicht, auch das Haus gefunden und schon einiges angeguckt. Schönes Wetter, angenehme Temperaturen. Nun musste ich natürlich noch ein richtiges irisches Pub erleben mit Lifemusik und Guiness. Da hatte mir Vati den Pub von O’Flaherty in Dingle empfohlen. Zwischen unserem Haus in Cloghane und Dingle lagen 12 Kilometer und der Connor Pass.

Am späten Nachmittag machte ich mich auf den Weg und fand auch gleich ein Auto, das mich nach Dingle mitnahm. Ich verbrachte einen lustigen Abend im Pub, trank zwei, drei Guiness und unterhielt mich gut mit einem jungen Iren, Tony. Da damals um 23:00 Uhr die Pubs schlossen (Sperrstunde), fing ich ab halb Zehn an rumzufragen, ob jemand nach Cloghane über den Connor Pass fahren würde. Allgemeines Kopfschütteln.

Gegen 11 Uhr wurde ich dann doch etwas unruhig. Tony versuchte mich zu beruhigen und meinte, es sei kein Problem, er würde mich zu der Stelle bringen, wo die Straße zum Connor Pass anfängt und mit mir dort warten, bis mich jemand mitnehmen würde. Er selbst hatte leider kein Auto.

Wir standen schließlich an besagter Stelle, knutschten ein wenig und winkten jedem Auto, das vorbei kam. Doch alle schüttelten den Kopf, niemand (von den drei Autofahrern in der Stunde) wollte über den Berg.

Es war dunkel geworden und ruhig, sehr ruhig. Es gab keine andere Möglichkeit, als zu Fuß loszugehen. Mein Plan war, dass, wenn ich erstmal unterwegs war, jeder, der vorbeikommen würde, wissen musste, dass ich über den Connor Pass ging, und mich schon aus Mitleid mitnehmen würde.

Die Straße zum Connor Pass 2009
Die Straße zum Connor Pass 2009

Hinauf zum Connor Pass – Bedrohung durch Schafe

Also ging ich los. Doch es kam kein Auto mehr. Tapfer ging ich weiter. Die Straße war nicht mehr als ein befestigter Feldweg. Schmal und immer aufwärts führend. Anfangs gab es rechts und links noch eingezäunte Weiden. Ich kann nachts nicht gut sehen. So erschreckte mich ein Pferd mit seinem Schnauben fast zu Tode. Ich kramte mein Klappmesser hervor und hielt mich krampfhaft daran fest. Schwarze Nacht um mich herum, erhellt nur durch den Schein des Vollmondes hoch über mir.

Ich ging mit regelmäßigen Schritten vorwärts. Zwölf Kilometer, das konnte doch nicht so lange dauern! Das war zu schaffen! Hinter der nächsten Kurve würde der Pass liegen, danach würde es wieder abwärts gehen. Die nächste Kurve kam, und dann noch eine und noch eine. Aber es ging weiter aufwärts.

Ich sah zurück: Die wenigen Lichter, die in Dingle noch leuchteten, schienen schon ganz weit weg zu sein. Rechts und links nun offenes Land. Der Vollmond leuchtete auf einem kleinen See. Vor mir, ungefähr einen Meter vor meinen Füßen, erhob sich mit unwilligem Schütteln plötzlich ein weißer Fleck und erwachte zu blökendem Leben. Ein paar Schafe hatten sich auf dem warmen Pflaster zum Schlafen gelegt.

Ich packte mein Messer fester. Die nächste Kurve, der Vollmond über mir, Dingle weit weg hinter mir und nichts, nur noch ein Kurve! Ich hatte das Gefühl, schon ewig unterwegs zu sein. Doch es war gerade erst eine Stunde vergangen.

Schafe am Connorpass 2009
Schafe am Connor Pass 2009

Kein Windhauch, der Vollmond strahlte mit einem intensiven Licht. Unheimliche Stille. Manchmal piepte ein verschlafenes Vögelchen und manchmal polterte ein Schaf von der Straße. Ich erschreckte mich jedes Mal fürchterlich.

Die nächste Kurve und – Nebel! Von einem Moment zum nächsten tastete ich mich in einer dichten grauen Suppe vorwärts, feucht, kalt und eng. Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen versuchte ich, die graue Wand vor mir zu durchdringen. Würde das denn gar kein Ende nehmen? Immer noch folgte eine Kurve auf die nächste.

Endlich oben!

Den eigentlichen Connor Pass, die höchste Stelle, nahm ich im Nebel nicht wahr und verpasste den Moment. Nur ganz allmählich merkte ich, dass die Straße nun abwärts führte. Die Hoffnung wuchs, dass ich bald aus dem Nebel heraus sein würde.

Doch auch hier gab es meine großen Gegner, die Schafe, die auf der Straße schliefen, im Nebel kaum zu sehen waren und die immer wieder vor mir mit lautem Blöken aufsprangen. Wer von uns mehr Angst hatte, war nicht auszumachen. Natürlich versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass ich keine Angst haben müsste.

Ich konnte mich weder verlaufen noch würde mich hier irgendwer überfallen. Doch die Angst blieb, ein gruseliges Gefühl, als Stadtmensch dieser Natur ausgeliefert zu sein und noch stundenlang den Naturgewalten ausgesetzt…

Die Bucht von Cloghane vom Connor Pass aus 2009
Die Bucht von Cloghane vom Connor Pass aus 2009

Hinab: Der gespenstische Wegweiser

Irgendwann kam ich aus dem Nebel heraus. Vor mir, weit unter mir blinkten die Lichter von Cloghane. Nun musste ich es ja bald geschafft haben! Meine Schritte beschleunigten sich hoffnungsvoll. Doch etwas Faszinierendes und Unheimliches passierte: Die Lichter blieben immer gleich weit entfernt, egal wie lange ich ging.

Die Landschaft veränderte sich nur sehr allmählich. Bald musste doch der Wegweiser kommen, von dem aus es nur noch 10 Minuten bis zum Haus sein würden! Rechts und links wuchsen jetzt knorrige Bäume, die im Vollmond unheimliche Schatten auf die Straße warfen. Ich ging entschlossen weiter.

Hinter der nächsten Kurve sah ich den Wegweiser mit seinen irischen Schwarzweiß-Markierungen. Endlich! Als ich aber an die Stelle kam, war da kein Wegweiser! Cloghane schien nur quälend langsam näher zu kommen. Ich war schon weit im Tal. Da, da sah ich den Wegweiser! Und doch, auch dieser eine Täuschung! Das passierte mir noch einige Male. Immer sah ich den Wegweiser, der dann aber nicht da war.

Irland 2009

Welch eine Erleichterung, als ich den Wegweiser dann doch endlich fand! Ich beschleunigte meine Schritte. Ein alter Bauer, der mir entgegenkam, grüßte freundlich aber merklich verwundert. Der Himmel wurde langsam heller, die ersten Vögel zwitscherten, als ich endlich das Haus erreichte und mich ohne große Umwege aufs Bett warf und erleichtert einschlief.

Alles wird gut!

Seit diesen Erlebnissen weiß ich, wie Gespenstergeschichten entstehen. Ich habe erst Jahre später meinen Eltern von diesem Abenteuer erzählt. Sie haben herzlich gelacht und der Connor-Pass wurde der sagenhafte Ort, an dem sie bei späteren Reisen nach Irland immer sagten: „Hier ist Ulrike um Mitternacht über den Pass gewandert!“

Ich bin übrigens auf dieser Reise in Edinburgh überfallen worden und habe noch so einiges erlebt. Aber die Wanderung über den Connor Pass war mit Sicherheit die Situation, in der ich mich am meisten gefürchtet habe und mir vor Angst fast in die Hose gemacht hätte.

Trotzdem bin ich immer wieder gewandert, auch allein. Nur nicht mitten in der Nacht.

Hast Du schon mal etwas ähnliches erlebt? Schreib mir einen Kommentar!

Die Fotos entstanden auf einer Reise nach Irland 2009

Weitere Wanderungen

Der Artikel entstand 2014 und wurde 2023 komplett überarbeitet.

Ulrike

13 Gedanken zu „Von der Angst unterwegs: Um Mitternacht über den Connor Pass“

  1. Ja, ich hab mich auch gewundert. Aber mein Vater kennt Irland supergut. Und er hat viel Vertrauen in die Iren…

  2. Ich kam von deinem „Sorgen der Eltern“ Bericht zu diesem Eintrag und muss mich doch wundern – dein so besorgter Vater (ich habe auch so ein Exemplar ;-)) empfiehlt das Trampen? Schon interessant, wie unterschiedlich Menschen Bedrohungen wahrnehmen, Gefahr ist eben immer subjektiv.

  3. Ich glaube, ich muss über den Überfall auch noch schreiben. Das hätte überall passieren können.

  4. Hmm, irische Gespenster sind nicht ohne!
    Doch, das Haus gibt es noch. Meine jüngste Schwester liebt es heiß und innig und wird es eines Tages erben.
    Liebe Grüße
    Ulrike

  5. DAS ist mal ein Abenteuer, das ich auch gern miterlebt hätte. So zimperlich ich bei all den ominösen Gefährlichkeiten unbekannter Fernreisen bin – nachts durch den Wald (oder eben durch irische Gegend) zu wandern, da habe ich kein Problem mit. 🙂
    Gibt es das Häuschen noch? Es ist bestimmt nicht mehr in Familienbesitz, oder? In Dingle waren wir nicht, aber auf Beara, sozusagen in der Nähe, und das war für mich der schönste Zipfel Irland.

    Liebe Grüße,
    Lena

  6. Nein, ich habe keine Selbstverteidigung gelernt. Aber ich bin groß (1,78) und schwer. Und ich kann selbstbewusst auftreten. Davor haben manche Angst. 😉

  7. Ich lese bei meinen abonnierten Blogs von oben nach unten und komme daher erst jetzt auf diesem Beitrag an. Manche Gewohnheiten kann ich nicht ablegen 😉

    Gespenster, die Yōkai (Mononoke), die Obake, gibt es in Japan überall. Bösartig sind nur die Oni. Und von der Yuki-onna (Schneefrau) sollte man sich auch fern halten 😉 Ich habe sie geheiratet. 😉

    Wenn ich deine Berichte lese bewundere ich wirklich deinen Mut. Hast du jemals einen Kurs für Selbstverteidigung belegt? Ich persönlich warte immer noch, dass mich wer auf einer Reise überfällt. Aber es ist uns mehr oder weniger passiert im letzten Jahr. Auch in Japan gibt es diese Sorte Mann. Vielleicht mehr noch, als anderswo.

  8. Als ich die Überschrift las stutzte ich kurz, „meint sie den Connor Pass bei Dingle?“ Beim Wort Interrail war ich mir immer noch unsicher, aber dann kam das Stichwort Irland und ich wusste um welchen Ort es ging. Erst im Februar waren meine Freundin, meine Schwester und ich in Dingle gewesen. Den Rückweg fuhren wir über den Connor Pass, ohne das wirklich zu wissen. Aber es war atemberaubend und ehrlich, Respekt, dass du diese Strecke gelaufen bist, da gingen sicher mehrere Stunden drauf.
    Morgen geht es wieder in die Richtung, aber diesmal Skellig Michael. Danke für diese tolle Geschichte 🙂

Ich freue mich auf Deinen Kommentar!